Levende Talen. Jaargang 1936
(1936)– [tijdschrift] Levende Talen–Die grundlagen der deutschen literatur-geschichteGa naar voetnoot1) von Prof. Dr. J. van Dam.Die Geschichte einer Gesamtliteratur zu schreiben, ist nur unter der Voraussetzung möglich, dass das Darzustellende in | |
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gewissem Sinne eine Einheit bildet. Diese Voraussetzung ist zwar ein Apriorismus, der erst durch die Arbeit selbst seine Bestätigung erhalten muss, aber sie fusst vielfach auf Voraussetzungen anderer Art, die zu betrachten sich lohnt. Sie kann allerdings zunächst durchaus unbegründet sein, eine Annahme schlechthin, die Überzeugung eines Verfassers, der sich über das Warum seines Gegenstandes keine Gedanken gemacht hat, da dieser schon wiederholt wissenschaftlich dargestellt worden ist und daher keiner theoretischen Begründung mehr zu bedürfen scheint. Über diese dilettantische Periode ist die Literaturwissenschaft dank der philosophischen Unterbauung der letzten Jahrzehnte wohl endgültig hinaus. Dann aber möchte ich drei Schattierungen in der Beurteilung der Literatur als einer Einheit unterscheiden; man betrachtet diese Annahme als eine unbeweisbare, des Beweises aber auch keineswegs bedürftige Grundwahrheit, als einen Mythos (um ein heute beliebtes Wort zu gebrauchen); man betrachtet sie als eine später zu beweisende Arbeitshypothese, oder man hält sie von vornherein für eine Fiktion. Letztere Auffassung mag einen gewissen Reiz besitzen für denjenigen, dem das Ideal einer hehren, in sich selbst abgeschlossenen und befriedigten Wissenschaft vorschwebt, die in frühem, gedanklich und stofflich weniger beschwerten Zeiten vielleicht möglich gewesen ist, gewiss passt sie nicht in unsere auf Nützlichkeit und Pragmatismus eingestellte Zeit, und sie würde, wie ich glaube, notgedrungen zu einem Verzicht auf die Darstellung eines so bewandten Stoffes führen müssen. Anderseits lehne ich den unerschütterlichen Mythos als Grundlage aus persönliehen Gründen ab, so dass für mich nur der Weg der Arbeitshypothese übrigbleibt. Sie lässt freilich die dritte Möglichkeit noch immer offen; wenn sie versagt, bleibt ja nur der schöne Schein! Inwiefern nun ist es möglich, die deutsche Literatur vom Hildebrandslied bis zu Friedrich Griese als eine Einheit zu begreifen und eine Geschichte von ihr zu schreiben, die mehr ist als eine Anhäufung literarischer Tatsachen? Es versteht sich, dass, soll diese Bedingung erfüllt werden, ein tragendes und ordnendes Prinzip gefunden werden muss, das den nach aussen hin anerkanntermassen disparaten Stoff gliedert und die Einheit aus der Fülle hervorleuchten lässt. Es liegt auf der Hand, den Leitgedanken zunächst in dem scheinbar unmissverständlichen | |
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Begriff deutsch zu suchen. Wie unklar jedoch der Begriff ‘deutsche Literatur’ ist, lässt sich bei näherem Besinnen sofort verstehen. Der eine wird darunter Literatur in deutscher Sprache verstehen, der zweite von deutschen Menschen geschriebene Literatur, der dritte Literatur, die von deutschem Lebensgefühl erfüllt ist; der vierte wird sogar einen unüberbrückbaren Gegensatz zwischen den Begriffen ‘deutsch’ und ‘Literatur’ empfinden und sagen, dass es nur eine deutsche Dichtung, keine deutsche Literatur gibt! Es hat daher wenig Zweck, einen Begriff, der auf so verschiedene Weise gebunden ist wie ‘deutsch’, zum Ausgangspunkt unserer Betrachtungen zu wählen, sondern erhoffen vielmehr Aufklärung über ihn von einer Betrachtung der deutschen Dichtung. Das ordnende Prinzip, das für die vereinheitlichende Zusammenfassung der deutschen Literatur notwendig ist, kann äusserer oder innerer Natur sein. Ich unterscheide als exogene, ausserhalb des Dichterischen mögliche Grundlagen Volk und Sprache. Der Begriff Volk jedoch ist sofort schon als mehrdeutig einer nähern Erklärung bedürftig; drei Aspekte des Begriffes sind wichtig: Volk in biologischem Sinne, d.h. Blut oder Rasse; Volk als geographischer Begriff, in seiner Beziehung zum Boden; Volk als soziologischer Begriff, als ein Konglomerat von Gruppen und Ständen, Gewerben und Funktionen. Als endogene Faktoren underscheide ich, zunächst auch wieder mit schillernden Schlagworten Stil und Geist. Auf jedem dieser Begriffe muss sich eine Literaturgeschichte bauen lassen, wenn die Arbeitshypothese der Einheitlichkeit bestätigt werden soll. Ich möchte diese verschiedenen Möglichkeiten kurz untersuchen. Zunächst also das Blut als Grundlage der Literaturgeschichte. Ich spreche dieses inhaltsschwere Wort nicht ohne gewisse Bedenken aus. Nicht weil ich den Wert des Begriffes anzweifeln möchte - im Gegenteil; er verspricht nach einer Periode der Übereilung und der Gefühlsbetontheit wohl auch geistesgeschichtlich recht fruchtbar zu werden, - aber man ist eben noch nicht über diese Periode hinausgekommen. Ist die Rasse als Grundlage der deutschen Literaturgeschichte denkbar? Dafür müssen gewisse Bedingungen erfüllt werden; es muss der Begriff Rasse, sowohl wie die Einteilung und die Sonderung der verschiedenen in Deutschland vertretenen Hauptrassen genügend geklärt sein und ausserdem hat man sich zu der von Günther | |
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und Clauss nicht ohne Talent vertretenen Rassenseelenforschung zu bekennen, die annimmt, dass der Rassenunterschied sich auch geistig auswirkt, m.a. W. dass Unterschiede in der Dichtung nicht zufällig, sondern in ihrem Wesen mit Unterschieden in der rassischen Abstammung der einzelnen Dichter zusammenhängen, dass somit jeder Rasse eine eigene Seelen- und Geisteshaltung entspricht, die sich selbstverständlich auch im Kunstwerk auswirkt. Schwierigkeiten bieten nun bei dem Erkennen und Deuten der Lebenshaltung eines Menschen sowohl die ungeheuer grosse Rassenmischung, die in Deutschland schon in der Steinzeit einsetzt, wie die beängstigende Abhängigkeit von der heutzutage so in Schulen gespaltenen Psychologie. Es kommt dann für die ältere deutsche Literatur ein grosses Hindernis hinzu; wie soll man die Rassenzugehörigkeit früherer Dichter erfahren? Sie aus ihren Werken zu erschliessen, wäre ein wohl sehr vitiöser Zirkel, und dennoch gibt es kaum einen andern Weg. Die Bildnisse des Mittelalters sind durchaus traditionell und nicht porträthaft; von der Farbe der Haare und dem Profil der Nase erfahren wir wenig, und man würde gern faktisch bestätigt sehen, dass der Dichter des Nibelungenliedes nordischer, Walther von der Vogelweide dinarischer, und Eike von Repgau fälischer Körpergestalt gewesen ist. Deshalb verspreche ich mir von der rassischen Literaturgeschichte wohl interessante Aufklärung und Deutung einzelner, moderner Künstler, vielleicht auch eine zusammenhängende Betrachtung der neuem Literatur, aber als Grundlage des Ganzen muss sie, wie mir scheint, da sie nur mit unzulänglichen Mitteln getrieben werden kann, versagen. Aber auch der Begriff des Stammes kann als Ausgangspunkt gewählt werden. Dieser Begriff ist allerdings nicht so eindeutigbiologisch wie die Rasse, - Stämme sind Gebilde soziologischer und biologischer Natur -, aber er hat den Vorteil, dass er bedeutend handgreiflicher ist als der Begriff der Rasse. Die deutschen Stämme sind nicht nur in ihrem ursprüngliehen Nebeneinander historisch deutlich erkennbar - die germanische Vorgeschichte hat ihre älteste Geschichte und Einwanderung in heutiges deutsches Land in grossen Zügen vollständig rekonstruiert - sondern sie liefern auch heute noch die klarste Gliederung des deutschen Volkes. Zwar herrscht auch hier terminologisch manche Verwirrung; die Stammesbezeichnungen haben neben ihrem ursprünglichen Inhalt auch | |
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sprachliche und politische Bedeutung erhalten - aber es ist möglich, diese Schwierigkeiten zu umgehen. Zwei Momente sind für die Bestimmung eines Stammes wesentlich, die gemeinsame Abstammung und die gemeinsame Landschaft. Wie das gegenseitige Verhältnis dieser beiden Momente ist, ist zunächst noch unklar; wer den Abstammungsfaktor stark betonen will, soll nicht vergessen, dass die sog. Neustämme ohne ihn auskommen und trotzdem, wie das Beispiel der Schlesier beweisen mag, einen deutlich ausgeprägten eigenen Charakter besitzen. Vor nicht allzu langer Zeit hat Jos. Nadler in einem höchst einprägsamen Buche das stammhafte Gefüge des deutschen Volkes beschrieben und darin sowohl die sog. Altstämme (Hochdeutsches Muttervolk: Franken, Alamannen, Baiern; Niederdeutsches Muttervolk: Sachsen, Friesen) charakterisiert wie die Neustämme im Osten und jenseits der Grenzen: Balten und Mecklenburger, Meissner und Schlesier, Sudetendeutsche und Siebenbürger. Das Buch ist eigentlich die später geschriebene Grundlage für seine berühmte ‘Deutsche Literaturgeschichte nach Stämmen und Landschaften’, die den Wunsch nach einer auf dieser Grundlage geschriebenen Darstellung der deutschen Dichtung vollauf befriedigt. Es ist ein Werk von grossartig einseitigem Aufbau - nur durch Einseitigkeit sind grosse Leistungen überhaupt möglich! - das aber in durchaus erfreulicher Inkonsequenz nicht nur den Standpunkt des Titels durchführt; es geht tief auf allerlei Fragen ein, die nur mit der Dichtung, nicht mit der Grundlage des Werkes etwas zu tun haben, und man wird es nie ohne Belehrung aus der Hand legen. Fragen wir uns, was sein Ergebnis für unsere Fragestellung ist, so sind wir allerdings leicht enttäuscht; es ist eigentlich keine einheitliche Literaturgeschichte, sondern ein Nebeneinander von Einzelliteraturgeschichten der einzelnen Stämme. Es betont somit das deutsche Volk und die deutsche Dichtung in ihrer Verschiedenartigkeit, nicht in ihrer Einheit. Es muss abgewartet werden, inwiefern die erst heute einsetzende deutsche Volksgeschichte - ich meine damit nicht die politische Geschichte des deutschen Volkes, sondern die Geschichte des deutschen Volkskörpers und die Beantwortung der Frage, wie und aus welchen Voraussetzungen dieser erwachsen ist - auch neue Problemstellungen der Literaturgeschichte ergeben wird. | |
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Ich komme damit von selbst zu dem dritten Aspekt des Begriffes Volk, dem soziologischen, denn eine Volksgeschichte hat das Volk nicht nur in seiner blutmässigen Zusammensetzung und seiner landschaftlichen Verteilung, sondern auch in seiner sozialen Schichtung zu untersuchen. Der soziologische Gesichtspunkt nun ist in den letzten Jahren immer häufiger betont worden, allerdings in den meisten Fällen nur in theoretischen Betrachtungen, in denen Literaturgeschichte sich bekanntlich am einfachsten treiben lässt. Zwei Gesichtspunkte sind dabei besonders hervorgehoben worden: die ständische Gliederung der Dichter und die Art der Resonanz, die der Dichter erfährt. Der erste Gesichtspunkt ist selbstverständlich nicht neu; man hat schon immer beobachtet, dass in der deutschen Literatur drei führende Stände auftreten: Geistliche, Ritter, Bürger. Diese Einteilung erweist sich für die ältere Zeit als durchaus tragfähig; es stellt sich heraus, dass sie sich als führende Schicht tatsächlich in der genannten Reihenfolge ablösen, und dass sie wirklich die Literatur ihres Zeitraums so gut wie ausschliesslich beherrschen, mit dem Verstande, dass man bei dem Auftreten eines neuen Standes auch die Wirkungen der vorigen Stände gleichsam als Substrat zu akzeptieren hat. Freilich ist nur die Ritterdichtung dabei als durchaus überzeugende Einheit vollkommen eindeutig zu erkennen. Schon die Geistlichendichtung trug ein doppeltes Antlitz, war sowohl Bildungs- wie Erbauungsliteratur und verteilt sich ziemlich glatt über die beiden Schichten des deutschen Klerus vor und nach Cluny. Und vollends die bürgerliche Dichtung! Das Wort bezeichnet nur für den Anfang und dann vereinzelt in spätem Perioden das Wesen dieser Literatur. Gewiss wird etwa das Fastnachtsspiel, oder Hans Sachs oder das Volksbuch durch das Prädikat bürgerlich treffend charakterisiert, aber schon im 16.Jahrhundert verliert es an schlagender Kraft; niemand wird es für die humanistische Dichtung, für Thomas Murner, für die Literatur der Schwärmer, für das Jesuitendrama, für Heinrich-Julius in Anspruch nehmen. Das setzt sich im Lauf der Jahrhunderte fort. Das achtzehnte Jahrhundert zeigt natürlich, aber dennoch nur verhältnismässig selten, Spuren jenes Lebensgefühls, das wir bürgerlich zu nennen pflegen, und wer würde es wagen, Goethe oder Wieland, oder auch Lessing und Klopstock bürgerliche Dichter zu nennen? Im 19. Jahrhundert | |
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wird es nur zum Teil anders; bei Raabe, Keller und Freytag findet es sich, freilich meistens unter dem Deckmantel der Kritik, um noch bis in die jüngste Zeit hinein von gewissen Formen des Romans gepflegt und von Thomas Mann sehnsüchtig umworben zu werden. Es wäre also töricht, nach der geistlichen und ritterlichen Dichtung und im Hinblick auf eine nur ansatzweise vorhandene proletarische Dichtung von einer bürgerlichen Periode von 1300 bis heute zu sprechen. Und dennoch lassen sich der soziologischen Betrachtungsweise interessante Ergebnisse abgewinnen. Verspricht es keinen Gewinn, die Lebenssphären der Dichter in ihrem Werk und in der Literatur ihrer Zeit aufzuspüren? Der Begriff der höfischen Dichtung z.B., der für das 17. Jahrhundert in vielleicht allzu einseitiger Weise in Anspruch genommen worden ist - man soll hier die städtische Aristokratie der norddeutschen Städte und Eigenbrödler wie Grimmelshausen und Moscherosch nicht aus den Augen verlieren - ist auch für das 18. und sogar für das 19. Jahrhundert hie und da fruchtbar - darf man den Höfling Goethe ganz vernachlässigen und wäre Wieland ohne die höfische Sphäre denkbar? Wie erklärt sich der unzeitgemässe Charakter der Münchener Kunst? Aber auch sonst ergeben sich interessante Fragestellungen; mit Staunen stellt man fest, in wie hohem Masse die Dichtung des 18. Jahrhunderts von protestantischen Theologen bestritten wird, wie schnell sich eine enge Verbindung zwischen Dichtung und Journalismus entwickelt. Und vor allem, eine der interessantesten und weittragendsten Tatsachen der europäischen Literaturgeschichte der neuern Zeit, die Entstehung des freien Schriftstellerberufes, ist soziologischer Art. Das Verhältnis von beruflicher Arbeit und dichterischer Produktion, die Frage, inwiefern der Beruf hemmend oder anregend gewirkt hat, ist nicht nur für jeden einzelnen Dichter aufschlussreich, sondern hier liegt zugleich ein wichtiges Problem der allgemeinen Literaturgeschichte. Man achte darauf, dass noch die grossen Dichter aus der Mitte des 19. Jahrhunderts es nicht wagten, von ihrer Feder zu leben, und ihr Beruf hatte in vielen Fällen - man denke an Storm oder Keller - nicht das Geringste mit ihrem Schaffen zu tun. Es wäre wichtig, zu verfolgen, wie sich der Augenblick, in dem der einzelne Schriftsteller sich zu diesem Schritt entschliesst, immer mehr verfrüht, bis sich in der Literatur von heute jener | |
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Publikationszwang entwickelt hat, dem sich nur wenige charaktervolle und gleichzeitig gut bezahlte Schriftsteller entziehen können. Die Unzufriedenheit über die Lage der Dichtung in Deutschland - und andern Ländern - hängt aufs engste mit dieser Industrialisierung zusammen; das Bestreben des Staates, diesen Strom abzudämmen und zu leiten, kann nicht nur für den Literarhistoriker, sondern bestimmt auch für das ganze Volk segensreich werden. So sind wir aber zugleich zu dem andern Problemkreis der soziologischen Literaturgeschichte gekommen, der sich auf den Empfangenden bezieht. Eine Dichtung zu schreiben, ist eine private Angelegenheit, sie zu veröffentlichen, ist eine soziale Tat. Drei Schichten von Leuten beeinflussen neben dem Dichter die Literatur, die Verleger, die Leser und die Kritiker. Hier liegt das Feld der Literaturgeschichte noch so gut wie brach. Es wäre z.B. nützlich, eine Literaturgeschichte der Verleger zu schreiben. Wie viel Werke sind auf ihre Anregung hin entstanden! Was bedeutet der Cotta-Verlag für die Klassik, was S. Fischer für den Naturalismus! Wie viel Werke sind von dem Verleger viel zu spät oder überhaupt nicht gedruckt worden! Und gleiches gilt für die Kritiker. Der Fall-Lessing ist allbekannt. Was haben bestimmte kritische Zeitschriften für den Entwicklungsgang der Literatur geleistet, ist eine Frage, die in vielen Fällen Erfolg verspricht. Und schliesslich das Publikum. Wer von Goethe und der Diltheyschen Erlebnislehre herkommt, wird den Einfluss des Verlegers, dessen unerschütterliches Nein unabwendbar ist, vielleicht noch anerkennen wollen, aber Einfluss des Lesers! Und dennoch könnte die Literaturgeschichte ohne diesen Einfluss nicht geschrieben werden. Die Dichter und Dichtungen vereinigen sich von selbst zu Gruppen und Schulen. Die entstehen zum Teil sicher durch Beeinflussung der Dichter unter einander, durch den ebenso geheimnisvollen wie unleugbaren Zeitgeist, aber wäre etwa das Interesse für die Robinsonade bloss auf diese Weise zu erklären, oder die Blüte der Reisenovelle und des Zeitromans des 19. Jahrhunderts? Selbstverständlich spielt hier der Wunsch des Lesers mit hinein, der allerdings in vielen Fällen dem des Dichters parallel geht, aber in nicht wenigen Fällen eine literarische Hochkonjunktur hervorruft - man denke an den Kriegsroman - oder einen Dichter ablehnt und ihm das Schweigen auferlegt. Jeder kennt Fälle von verkanntem Genie; das Thema gehört in die soziologische Literaturbetrachtung. | |
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Indessen hat die Betrachtung der soziologischen Funktion noch eine wichtige Folge, über die man sich selten klar wird. Aus dem Gesamtbild der Literatur sollte alles das beiseitegelassen werden, was nicht zu dieser soziologischen Funktion berufen worden ist. Alle nachgelassenen und unveröffentlichen Schriften, mögen sie auch von aussergewöhnlichem Wert sein für die Deutung einer bestimmten Künstlerpersönlichkeit, haben in einer soziologisch begründeten Literaturgeschichte nichts zu suchen. Die Frage, ob der Altonaer Joseph echt oder unecht ist, ist für sie durchaus müssig, da dieses Gedicht niemals ein deutsches Publikum gefunden hat. Diese Dinge scheinen unbedeutend, aber haben doch für das Mittelalter, das viele nur einmalig überlieferte Werke kennt, einen gewissen Wert. Wie viele von diesen Werken sind über die Schreibstube des Verfassers nicht hinausgekommen? Ich komme dann zu der Erörterung der Sprache als Grundlage der Literaturgeschichte. Auf den ersten Blick scheint kein Problem vorhanden zu sein. Die Sprache ist als Ausdrucksmittel ebenso notwendig wie selbstverständlich, ja, sie scheint die gegebene Grundlage für jede Literatur zu sein. Zu ihr gehört alle Wortkunst, die in einer bestimmten Sprache geschrieben wurde; sie ist ihre gemeinsame Bindung. Bei näherem Zusehen ist die Sache nicht so einfach. Zunächst einmal erheben sich praktische Schwierigkeiten verschiedener Art. Wenn man von der deutschen Literatur alles das ausschliesst, was nicht in deutscher Sprache geschrieben wurde, dann verstösst man nicht nur gegen die Tradition - was an sich nicht schlimm wäre - sondern man muss auch manches überschlagen, was aus innern Gründen aufgenommen zu werden verdient. Ich denke an die von Deutschen geschriebene lateinische Dichtung. Hier hat die Literaturgeschichte seit altersher eine konventionelle Auswahl getroffen. Es werden die Dichtungen der Ottonischen Zeit, das lateinische Drama des Mittelalters und der Reformationszeit eingeschlossen; die ausgedehnte hagiographische und Legendenliteratur des Mittelalters und der Hauptbestand des humanistischen Schrifttums bleiben ausgeschaltet. In wie fern ist diese Auswahl berechtigt? Offenbar ist sie teilweise aus prinzipiellen, teilweise aus opportunistischen Gründen erfolgt. Ekkehards Waltharius z. B. wird immer aufgenommen, und tatsächlich leuchtet aus dem heroisch-grotesken Schluss eine Stimmung | |
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hervor, die in mancher Beziehung an die germanisch-skandinavische Poesie erinnert. Aber was ist deutsch an dem Ruodlieb? Mich dünkt, hier steigt ein Geist empor, der an die kommende Renaissancenovelle gemahnt; das Werk scheint in seiner novellistischen Pointiertheit und abenteuerlichen Handlung ein Produkt romanischen Geistes zu sein. Die spätem lateinischen Bestandteile sind, von wenigen Ausnahmen, etwa den Dramen des Naogeorg abgesehen, offenbar nur aus praktischen Gründen aufgenommen, weil sie deutsche Werke erklären helfen. Dies ist aber nur eine Kleinigkeit Wichtiger, vor allem für die Gegenwart, ist das Problem der auslandsdeutschen Dichtung, dem Wh. Schneider gerade ein Buch gewidmet hat. Es handelt sich dabei keineswegs um Belangloses. Weshalb wird die österreichische und die deutschschweizerische Literatur ohne Bedenken und Begründung aufgenommen? Was soll mit der sudetendeutschen, der siebenbürgischen, der Wolgadeutschen Dichtung geschehen? Es ist deutlich, dass hier politische Grenzen keine Rolle spielen können. Es handelt sich offenbar um Kulturprovinzen, über deren Zugehörigkeit zu der deutschen Literatur ihre grössere oder geringere Isoliertheit oder Selbständigkeit entscheidet. Schneider fasst das Problem zu äusserlich, wenn er nur die Deutschen berücksichtigt, die nicht an das geschlossene deutsche Sprachgebiet grenzen. Die deutschen Dichter aus Österreich, der Schweiz, Böhmen sind zum Teil so eng mit der gesamtdeutschen Literatur verwachsen, dass man sie nicht entbehren kann. Weder Gottfried Keller noch Franz Grillparzer sind regional. Aber es wäre zu erwägen, ob nicht andere Erscheinungen von stärkerer Gebundenheit und schwächerer Wirkung an eine regionale Literaturgeschichte abgetreten werden können; ich denke z. B. an die Wiener Komödie, an Zschokke. Noch schwieriger wird es, wenn bestimmte auslandsdeutsche Dichter deutsche Verleger haben und vor allem in Deutschland wirken; so machen sich einige siebenbürgische Dichter gerade heutzutage in Deutschland einen grossen Namen. In der Dichtung der Emigranten erwächst dem Literarhistoriker der Zukunft ebenfalls eine grosse Schwierigkeit. Indessen bleibt die Möglichkeit bestehen, neben der zusammenfassenden Literaturgeschichte auch Darstellungen der Einzelländer zu schreiben. Namentlich für die Schweiz und für Österreich ist das wiederholt versucht. Ich glaube, dass es nicht | |
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nur der Fähigkeit der Verfasser zuzuschreiben ist, dass solche Versuche für die Schweiz besser ausfallen als für Österreich. Ist also die Sprache rein äusserlich als Medium der deutschen Literatur unentbehrlich, es scheint unmöglich, sie als Grundlage der Gliederung der deutschen Dichtung zu wählen. Ihr Weg ist ein anderer als der der Dichtung; sie ist nicht nur, wie die Literatur, eine der Äusserungsformen der Kultur des Volkes, sondern sie ist zugleich ihr Träger; sie steht also in viel unmittelbarerer Beziehung zu diesem Volk als die Dichtung, die entscheidende Wandlungen im Volke vielfach verspätet oder, in Zeiten grosser Volksentfremdung, überhaupt nicht mitmacht. Daher ist es wissenschaftlich unverteidigbar, die Literatur sprachlich zu gliedern; allerdings geschieht es häufig genug, namentlich für die ältere Zeit. Dennoch müsste ein vergleichender Blick auf den Entwicklungsgang von Sprache und Literatur fruchtbar sein, ja, es liesse sich eine Sprachgeschichte denken, die der Literaturgeschichte auf den Fuss folgte, eine Geschichte der literarischen Sprachstile also, wie sie für Deutschland nur ansatzweise vorhanden ist. Sie hätte von der Beobachtung auszugehen, dass gewisse literarische Strömungen, besonders in der Neuzeit, fast immer einen eigenen Sprachstil ausbilden, der für uns, z. B. beim Barock oder beim Impressionismus, oft das am leichtesten erkennbare Kennzeichen einer literarischen Periode ist. Man hat es also mit dem interessanten Phänomen zu tun, dass der ‘Zeitgeist’ sowohl auf die Form, in der die Dichtung zum Ausdruck kommt, wie auf ihren Gehalt einwirkt, so dass ein deutlicher Parallelismus zutage tritt. Es erscheint daher als eine der wichtigsten Aufgaben der geistesgeschichtlich gerichteten Sprachwissenschaft, diesen Parallelismus zu erforschen, und zu erklären, weshalb er manchmal wohl, manchmal nicht ganz so klar hervortritt, wie man das wünschen möchte. In gewissem Sinne deckt sich diese Fragestellung mit der Frage, wie gross der Einfluss der Literatursprache auf die normale Schrift- und Sprechsprache ist und umgekehrt. Es gibt übrigens noch einen Grund, weshalb Literatur- und Sprachgeschichte nicht parallelgehen. Die Literatur ist in zunehmenden Masse international gerichtet. Das gilt selbstverständlich an erster Stelle für das 19. Jahrhundert. Romantik, Realismus, Naturalismus, Neuromantik u.s.w. sind allgemein europäische Erscheinungen, die sich in jeder Dichtung zwar | |
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verschieden auswirken, aber nicht ohne Kenntnis der Entwicklung der andern Literaturen verstanden werden können. Es ist kein Zufall, dass sich auf diesem Felde die vergleichende Literaturgeschichte entwickelte und zwar in dem engen und beschränkten Sinn, den sie noch heute besitzt. Diese Disziplin ist nämlich heute keineswegs das, was sie denn doch ihrem Namen nach sein müsste, eine den Geschichten der einzelnen Nationalliteraturen übergeordnete Wissenschaft, sondern sie ist eigentlich ihre ergebene und hilfreiche Dienerin, die der nationalen Literaturgeschichte zu dem Material verhilft, das sie braucht, um die internationalen Bindungen zu berücksichtigen; sie ist vor allem die Literaturgeschichte der gegenseitigen Beeinflussungen. Das ist eine Aufgabe, die gewiss höchst wichtig ist, die aber weder den Titel erklärt noch zu allzu stolzen Ansprüchen berechtigt. Was dann wohl unter vergleichender Literaturgeschichte zu verstehen ist, was sie eigentlich zu tun hat? Nun, die Antwort scheint einfach: sie soll vergleichen! Wer z. B. den Entwicklungsgang der deutschen und der niederländischen Literatur mit einander vergleicht, der wird erfahren, wie überraschend schnell das Wesen der beiden Kulturen und Völker sich im gegenseitigen Verhältnis erkennen lässt, wie bald z. B. die niederländische Dichtung jenen nüchternen, sachlich-realistischen Charakter aufweist, der seinem Träger, dem Volk entspricht. So aufgefasst, kann die vergleichende Literaturgeschichte zu einem wichtigen Hilfsmittel der Kultur- und Geistesgeschichte werden. Aber ich sehe noch andere Aufgaben. Die Literaturen des europäischen Mittelalters sind bei weitem nicht so streng nach Sprachen getrennt wie das in der Neuzeit der Fall ist. Nicht nur sind sie alle durch den gemeinsamen Bildungsfaktor der mittellateinischen Literatur verbunden, nicht nur stehen sie alle der Überlieferung des lateinischen Altertums noch näher, nicht nur sind wichtige Erzählstoffe international - man denke an Arthur-, Parzival-, Gral-, Tristansage - sondern es gibt sogar Provinzen literarischer und geistiger Kultur, die sich an keine Landesgrenzen stören. Das gilt z. B. schon für die höfische Kultur - weder Minnesang noch höfisches Epos sind in Deutschland ohne Frankreich verständlich - das überzeugendste Beispiel einer solchen Kulturprovinz jedoch ist vielleicht das Verbreitungsgebiet der deutschniederländischen Mystik, das sich von Strassburg bis Groenendaal | |
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erstreckt. Für die deutschen Mystiker ist Ruysbroeck einer von ihresgleichen; die sprachlichen Grenzen werden durch Umschriften in die andere Sprache leicht überwunden; von einer eigentlichen Übersetzung braucht man ja kaum zu reden, weil ein gut Teil der mystischen Terminologie hier wie dort Neubildung ist und einfach übernommen werden kann. Es scheint an der Zeit, die Geschichte dieser Kulturprovinz zu schreiben. Eine ähnliche Kulturprovinz, deren Geschichte dank starker lateinischer Überlieferung schon dargestellt wurde, ist das geistliche Drama. Etwas anders gewandt ist die Provinz der chanson de geste, deren Ausstrahlungsgebiet, von Frankreich aus, an die Kartenbilder der Dialektgeographie erinnert, wie überhaupt die geographische Betrachtungsweise für diese Art der Literaturforschung fruchtbar ist. Das Rheinland z. B. weist in seiner gegenseitigen Durchdringung niederländischer und deutscher Literatursphären auffallende Parallelen zur Sprachgeschichte auf. Auf ähnliche Weise könnte man sich eine westeuropäische Geschichte der mittelalterlichen Literatur denken. Man müsste neben die Literaturen der Einzelvölker die Geschichte des höfischen Epos, des Heldenepos, der Tierdichtung, des weltlichen Dramas usw. stellen und je nach Bedürfnis und Bedeutung die deutsche, französische, niederländische, englische, italienische und spanische Dichtung in den Bereich der Betrachtung ziehen. Was für spätere Zeiten unlösbar ist, ist vielleicht für das Mittelalter dank der beschränkten Überlieferung und der geringem Schwierigkeit der Idiome vielleicht noch möglich; namentlich für die niederländische Literatur des Mittelalters, die im Ausland viel zu wenig bekannt ist, erwarte ich aus ihrer Einreihung in den internationalen Rahmen reichen Gewinn. Ich komme zu den innern Kriterien der Literatur, zu geistigem Gehalt und zum Stil. Scheinbar ganz disparate Begriffe, hängen sie doch aufs Engste zusammen. Ihre Zusammengehörigkeit darzutun und sie aus Zeit, Ort und Persönlichkeit der Dichter herzuleiten, halte ich für eine der wichtigsten Aufgaben der Literaturgeschichte. Es ist unmöglich, sie immer auseinanderzuhalten. Wer von Barock spricht, muss näher bestimmen, ob er die sprachliche Ausdrucksform oder die geistig-seelische Haltung des Künstlers damit bezeichnen will; ein innerer Zusammenhang ist unverkennbar, und Deutungen des Barock aus Stil und Geist führen oft zu demselben Ergebnis. Ähnliches gilt | |
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für die Romantik; auch hier wird keiner den Zusammenhang verkennen. Aber gilt das Gleiche nicht für die Klassik, für das Biedermeier, für das 16. Jahrhundert, für den Expressionismus? Es scheint somit erlaubt, die Literaturgeschichte nach diesem Grundsatz aufzubauen und einzuteilen in zugleich stilistisch gebundene Geistesepochen. Barock, Aufklärung, Rokoko, Sturm und Drang, Klassik, Romantik, junges Deutschland, Biedermeier, Realismus, Naturalismus usw. sind solche Einheiten. Wo eine Gruppe aus dem Zusammenhang herausfällt, besteht oft die Möglichkeit, eine neue geistig-stilistische Einheit zu erkennen. So entstand das Biedermeier aus dem Realismus, eine wie mir scheint, besonders gut gelungene Abschaltung einer bestimmten Lebensstimmung aus einem grossern Zusammenhang, die zugleich durch einen ganz eigenen und nachdem er einmal erkannt worden ist, auch leicht erkennbaren Stil gekennzeichnet wird. Denn hier liegt zugleich der schwache Punkt dieser ganzen Methode; diese Perioden müssen erkannt werden! Sie sind also nicht gegebene Tatsachen, sondern sind zunächst, jede für sich, wieder Arbeitshypothesen, deren Berechtigung noch zu beweisen ist. Sie sind abhängig von einer -naturgemäss subjektiven - Auswahl der bestimmenden Eigenschaften, und Neuorientierungen, neue Einteilungen, neue Termini sind immer möglich. So haben wir die Geburt des Barock, der Deutschen Bewegung, des Biedermeier, die Neugeburt der Romantik erlebt; es ist nicht unmöglich, dass Neues folgt. Und trotzdem, wie glatt und harmonisch scheinen die Epochen aufeinander zu folgen, wie selbstverständlich fügen sich die einzelnen Figuren in den grösseren Zusammenhang! Warum erscheint Schiller neben und nicht nach Goethe, Keller neben Freytag, Hauptmann neben Anzengruber? Ist dies alles trügerischer Schein oder von uns hineingelegte Harmonie? Auf diese allerwichtigste Frage der Geistesgeschichte ist eine entscheidende Antwort unmöglich. Wir berühren das Problem der geschichtlichen Forschung überhaupt Die Art und Weise, wie eine bestimmte Zeit die Vergangenheit sieht, ist bekanntlich recht verschieden und abhängig von ihrer geistigen Haltung. Ich wäre also geneigt, die Frage mit Ja zu beantworten; die heutige Art, die deutsche Geistes- und Literaturgeschichte zu betrachten, ist eine subjektive, von der heutigen Zeit oder lieber von der jüngst-vergangenen Zeit aus beeinflusst. Anderseits aber wäre es ein allzu bequemer Verzicht auf die | |
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Objektivität der Wissenschaft, die von der Geistesgeschichte erarbeitete Grundstruktur des literarischen Entwicklungsgangs als etwas in jeder Hinsicht Zeitgebundenes und Vergängliches zu werten. Es erscheint allzu schwierig eine Auswahl zu treffen aus den vorhandenen Möglichkeiten, die Objektivität dieser Grundstruktur darzutun, und ich beschränke mich darauf, auf die Möglichkeit einer vermittelnden Lösung hinzuweisen, derzufolge sie tatsächlich als die in den Tatsachen beruhende, objektive Lage zu betrachten wäre, die von dem jeweils waltenden Zeitgeist bis zu einem gewissen Grade umgewandelt und modifiziert dargestellt würde. Demnach wären Geist und Stil in ihrer Wechselwirkung und ihrem deutlichen Parallelismus eine ausgezeichnete Grundlage für die deutsche Literatur seit dem Barock. Warum versagt sie aber in der vorangehenden Periode? Einer der Gründe liegt hier in dem Primat der Philologie vor der Geisteswissenschaft und der Stilistik. Man kann ruhig behaupten, dass man für die ältere Zeit noch nicht so weit ist, sowohl wegen der besondern philologischen Probleme, die beherrschend im Vordergrund stehen, wie wegen der eigentümlichen Schwierigkeiten der geistesgeschichtlichen und stilistischen Fragen. Aber dieser Grund ist nicht der einzige, ja, nicht einmal der wichtigste. Wir sind hier zunächst noch in der Periode vor der Ausbildung der Nationalstile im eigentlichen Sinne des Wortes. Das Mittelalter ist sowohl geistig wie stilistisch für ganz Westeuropa eine relative Einheit, die sich auch in den Einzelliteraturen auswirkt. Natürlich ist, dank einem gründlichen Studium der verschiedenen Poetiken der Zeit, manches über die verschiedenen Stilarten mittelalterlicher Poesie bekannt, und in vorläufig noch recht wenigen Einzeluntersuchungen wird die Verbreitung dieser Stile über verschiedene Nationalliteraturen und damit ihr internationaler Charakter verfolgt. Eigentlich ist die Lage genau so wie in der so ausgeprägt europäischen Zeit des Naturalismus; auch dann konnte von einem europäischen Stil gesprochen werden. Aber während man die deutsche Variante dieses Stils mit Leichtigkeit erkennen kann, ist das für das Mittelalter noch nicht in diesem Umfang der Fall. Natürlich kann man bei einem Wolfram, einem Chrétien, einem Dante den Eigencharakter der Heimat wohl erkennen, aber es liessen sich leicht Fälle anführen, wo das nicht der Fall ist. Hier liegt für die vergleichende Stilistik noch ein ergiebiges Feld. | |
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Das gilt aber noch in stärkerm Masse für die Geistesgeschichte. Natürlich sind auch auf diesem Gebiete die Physiognomien der Völker schon erkennbar; die deutsche Mystik z. B. wird vorzugsweise als etwas Deutsches erkannt, obwohl Günther Müller mit Recht vor der Einseitigkeit dieser Auffassung gewarnt hat. Die geistige Bildung des Mittelalters wird eben noch in vollem Umfang von den Geistlichen beherrscht und daher von einer international gebundenen und orientierten Macht. Mit dem Aufkommen des ‘weltlichen Denkens’, wenn man das so allgemein sagen darf, kommen die Individualitäten der Völker deutlicher zum Ausdruck. Deshalb verzweifle ich vorläufig noch an einer Begründung der mittelalterlichen Dichtung mit den Mitteln der Geistesgeschichte. Am Schluss muss also festgestellt werden, dass die Grundlagen, die ich einzeln auf ihre Tauglichkeit untersucht habe, alle mehr oder weniger brauchbar sind. Schwierigkeiten bieten allerdings alle, und es scheint gefährlich, auf einer von ihnen in eiserner Konsequenz eine Literaturgeschichte aufzubauen. Dennoch müsste der Versuch gemacht werden; und es wäre ebenso fesselnd wie belehrend, wenn neben Nadlers vorzüglichem Bau eine Reihe von andern, nicht weniger einseitigen Werken stünde, die auf den andern Grundlagen errichtet worden wären. Denn, ich betone es noch einmal, nur in der Einseitigkeit liegt die Möglichkeit der Grösse und der gewinnenden Kraft. Wenn man aber diese Einseitigkeit vermeiden will, ist der beste Ausweg, für die erste Hälfte die ziemlich befriedigende soziologische, für die zweite Hälfte die bedeutend befriedigendere geistesgeschichtlich-stilistische Grundlage zu wählen, ein Verfahren, das die ‘Geschichte der deutschen Literatur’ von van Stockum-van Dam anwendet. Eins sei mir noch als Schlussbemerkung erlaubt; man soll, wenn man Literaturgeschichte als Ganzes betreiben will, nie vergessen, dass ihre Einheit in irgend einer Kulturform des betreffenden Volkes gefunden werden muss. Allzu oft enthält eine Literaturgeschichte in bunter Reihe Philologisches, Psychologisches, Entstehungsgeschichte einzelner Werke, Entwicklungsgänge einzelner Dichter, Ausführungen also, die vom geraden Weg ablenken, nicht zur Sache gehören und den grossen Zusammenhang oft empfindlich stören. Selbstverständlich hat der Literaturforscher sich auch mit diesen Fragen zu beschäftigen, | |
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aber nur wenn er sich in einen einzelnen Gegenstand vertieft, nicht, wenn er sich der Gesamtdichtung widmet. In der Kulturgeschichte findet nämlich die Literaturgeschichte die nächste ihr übergeordnete Disziplin; die Geschichte einer Literatur als Gesamtheit ist nur möglich, wenn sie ein Stück, ein Zweig der Kulturgeschichte ist. Sie bekommt dadurch einen Sinn, der ihren Wert über ihre eigenen Ziele hinaus erhebt und der Erkenntnis der historischen Vergangenheit des Volkes überhaupt zugute kommt. Hier aber öffnet sich ein Ausblick auf eine Arbeit, die hinter der Literaturgeschichte liegt und nur andeutungsweise, aber dann mit grösstem Gewinn, auch in die Literaturgeschichte aufgenommen werden kann, die vergleichende Kulturgeschichte, die alle Äusserungen einer Volkskultur, Dichtung, Sprache, Künste, Wissenschaft, Philosophie, Politik usw. usw. vergleichend ordnet, ihren Parallelismus und ihre Widersprüche verzeichnet und deutet und sie zu einem Entwicklungsgang des Ganzen zu vereinigen weiss. Dies, wenn auch nur fragmentarisch, zu erreichen, und somit zu dem Wesen der Kultur vorzudringen, ist wohl die höchste Aufgabe des Geistesgeschichtlers. |
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