Levende Talen. Jaargang 1935
(1935)– [tijdschrift] Levende Talen–
[pagina 271]
| |
Die Deutsche Sprache im Umbruch.Wenn man auch nicht gerade gezwungen werden kann, dem Krieg, den kriegsfrohe Völker als den ‘Vater’ aller Dinge preisen, die Vaterschaft bei sprachlichen Wandlungen grösseren Masstabes aufzubürden, Geburtshelferdienste bei solchen sprachlichen ‘Umbrüchen’ leistet er unbedingt. Wem fiele nicht sogleich die ‘Geburt’ des Neu-Türkischen ein, das, als Idee längst vor dem Kriege empfangen, doch erst im Rahmen der Staatsneubildung Kemal Paschas das Licht der Welt erblickte, oder das Sowjet-Russische, das mindestens in seiner Erscheinungsform (Orthographie, Wortschatz, Stil) wie eine neue Sprache wirkt! Beim Russischen ist freilich der Einfluss der Revolution auf die sprachlichen Vorgänge nicht zu übersehen, wie auch sonst Beispiele für idiomatische Veränderungen im Zusammenhang mit Gesellschaftskrisen sich aufdrängen, gehen doch Krieg und Revolution nur zu gern Hand in Hand. Die grosse Französische Revolution ist auch hier Muster für andere Revolutionen und vielleicht besonders beweiskräftig, weil sie eine durch Herkommen und bewusst arbeitende Sprachpflegeeinrichtungen geschützte Sprache in die Mache nahm. Sprachsoziologisch gesehen bringt der Krieg häufig, mindestens für eine Zeit, andere Ausdrucksnotwendigkeiten und Sprecher, lässt eine Revolution normalerweise ganz andere Schichten der Gesellschaft zu Worte kommen und auch ein Wörtchen mitreden. Psychologisch aber sprengt eine Durchrüttelung des gesamten Volkskörpers viele Bande des Herkommens, lockert die harte Kruste und schafft für neue sprachliche Aufgaben Licht und Luft. An sich vollzieht sich selbstverständlich stets, mindestens von Generation zu Generation ein sprachlicher Wandel, aber er bleibt meist unbemerkt innerhalb kleinerer Zeiträume, weil die Gewohnheiten des ruhig weiterlaufenden Alltags seiner Beachtung entgegenarbeiten. Auffallen durch Neubildungen oder gar Fehler ist, solange die gesellschaftlichen Verhältnisse unerschüttert sind, unerwünscht, ja sozial bedenklich, nur die ihres Wertes bewusst gewordene Krieger- oder Aufstiegsschicht wertet plötzlich um und zwingt gegebenenfalls auch die bisher wortführende Schicht zur Anerkennung ihrer Sprache. Grundsätzlich liegen bei friedlichen, d.h. geistig bedingten Revolutionen die Dinge nicht | |
[pagina 272]
| |
anders, bloss wird deren Sieg nie so schlagend und schnell ‘umpflügen’, da sie auf den Menschen von innen her wirken wollen und daher längerer Zeiträume bedürfen. Es darf für diesen Vorgang das Beispiel der Deutschen Reformation herangezogen werden. Zu den umformenden Kräften, die Kriege, gesellschaftliche und geistige Bewegungen darstellen, treten nun noch gelegentlich ganz andere, die wir im weitesten Sinne als von der Technik bestimmt bezeichnen können. Neue Dinge wollen auch neue Namen oder bringen mindestens ihre Namen aus den Erfinder oder Herkunftsländern mit. Wieviele Entlehnungen weisen die zivilisatorisch jüngeren Sprachen der Völker auf, das Deutsche gegenüber dem Französischen, das Russische im Vergleich zum Deutschen, die nordischen Sprachen. Und selbst, wo es sich gar nicht um Dinge, sondern um Wissensgebiete oder Kunstübungen handelt (Handelsvorgänge, Musik), wo grosse Organisationen (Heer, Flotte) vorbildliche werden für andere Völker, wird mit der Sache auch die Benennung übemommen. Dieser Überblick war nötig, um für die Beurteilung der sprachlichen Revolution, die das neue Deutschland erlebt hat oder noch durchlebt, einen festen Standpunkt zu finden. Es lässt sich leicht zeigen, dass in den zwei Jahrzehnten seit Ausbruch des Krieges auf die deutsche Sprache, und zwar die geschriebene wie die gesprochene, sowohl kriegerische, wie gesellschaftliche, geistige wie technische Formkräfte eingewirkt haben von einer Stärke und Vielfältigkeit, wie sie geballt nicht oft auf eine Sprache losgelassen worden sind. Und dadurch erklärt sich der bereits spürbare Wandel in der Tagessprache, der selbst dem weniger aufmerksamen Inländer gelegentlich auffällt, vor allem aber dem vom sprachlichen Geschenen des Mutterlandes gelösten Auslandsdeutschen oder des Deutschen kundigen Ausländer Verständnisschwierigkeiten macht. Soweit ich die Literatur durchgesehen habe, ist mein Versuch, zusammenfassend zu diesen Vorgängen Stellung zu nehmen, der erste; die Schwierigkeit des Unternehmens mag entschuldigen, wenn er noch recht unzureichend ausfällt, und eine kleine methodische Vorbemerkung rechtfertigen. Ich habe versucht, meine eigene Materialsammlung, mit der ich seit längerer Zeit befasst bin, auf ihren Gehalt hin zu prüfen durch einen Vergleich mit den historisch greifbaren Wandlungen | |
[pagina 273]
| |
des Französischen nach der Revolution von 1789. Dabei ergab sich für mich überraschend, dass die ersten Versuche einer lexikographischen Erfassung der ‘nouveaux mots’ erst 25 Jahre nach dem Umsturz vorgenommen worden sind, ausgerechnet offiziell am Vorabend der Restauration. Unterscheidend kam mir zum Bewusstsein, dass für das nachrevolutionäre Französisch die gesellschaftliche Umwälzung und die geistige Wiedergeburt aus dem Geiste der Romantik viel mehr ins Gewicht fallen als die kriegerischen und technischen Neologismen. Mein Versuch, die heutigen russischen Sprachvorgänge heranzuziehen, ist nicht gelungen; in den westeuropäischen Zeitschriften, die sich mit dem Problem Russland befassen, habe ich nichts Wesentliches gefunden, und des Russischen bin ich nicht genügend Herr, um Originalaufsätze lesen zu können. Vielleicht ist aber auch meine Vermutung, dass die Sowjetregierung andere Sorgen hat, als Sprachphilosophie zu treiben, nicht ganz von der Hand zu weisen. Soweit ich zu urteilen vermag, müsste sonst die Parallele zwischen der Deutschen und russischen Entwicklung fast völlig sein, da ausser den kriegerisch-revolutionären auch die geistigen und technischen Faktoren das Bild des heutigen Russischen massgebend beeinflusst haben dürften, genau wie das heutige Deutsche.Ga naar voetnoot1)
Der zweite August 1914 eröffnete auch für die deutsche Sprache die Epoche der Kriegswirtschaft. Wie die allgemeine Volksversorgung der Not gehorchend, auf die ‘Autarkie’ umgestellt wurde, so auch nach Möglichkeit die Muttersprache. Längst gab es ja in Deutschland Bemühungen um eine fremdwortfreie Alltags-, ja Fachsprache, aber erst die Kriegsbegeisterung erzeugte eine tatwillige Stimmung auch in den weiteren Kreisen, die mehr auf den Inhalt des Gesprochenen als auf dessen Form zu achten gewöhnt und genötigt sind. In der Stunde der vaterländischen Not, Worte, die aus Feindesland gekommen waren, in den Mund zu nehmen, das schien ein so | |
[pagina 274]
| |
klarer Fall des Vaterlandsverrats, dass nunmehr der Weizen der Sprachreiniger blühte. Der bemerkenswerte Fall, dass selbst die Grussformel ‘adieu’ geächtet und ziemlich schnell ausgemerzt wurde zugunsten des gar nicht einmal immer passenden ‘Auf Wiedersehen’, zeigt, wie tief diesmal die Überwachung durchgriff. (Gleich hier sei daran erinnert, dass zwanzig Jahre später noch einmal ein neuer Gruss eingeführt worden ist, das bekannte Bekenntnis zum neuen Deutschland und seinem Führer ‘Heil Hitler’. Mit dieser zwiefachen Umänderung eines so automatischen Vorganges wie die Begrüssung steht nach meiner Kenntnis das deutsche Volk einzig da. Die allmächtigen Behörden, vor allem die militärischen, ferner die Post, die Eisenbahn, die Schulverwaltung liessen es sich angelegen sein, durch Erlasse und Beispiel eine neue Gewöhnung anzuerziehen, die jedes Wort zuerst einmal auf seine nationale Zuverlässigkeit ansah, womit natürlich nicht die letzte wissenschaftliche Genauigkeit im Bestimmen des wirklich ursprünglich Undeutschen erreicht werden konnte. Besonders erfreute sich das neuaufkommende Gebiet der Kriegstechniken von vorneherein der liebevollsten Beachtung durch die Muttersprachbewegung. An der Spitze marschiert hier das vorbildliche Deutsch der täglich ausgegebenen Heeresberichte, die nicht nur dem einzelnen Wort gegenüber, sondern auch in der Satzgestalt sprachliches Verantwortungsgefühl zeigten. Ohne die alteingebürgerten militärischen Fachausdrücke (wie später die Reichswehrreform) zu verfehmen, benennen sie die z. T. ganz neuartigen Vorgänge des Grabenkrieges mit volkstümlich plastischen Worten, wissen auch stimmungskräftige Ausdrücke in massvoller Weise beizugeben, die dann schnell in Aufnahme kommen, wie z. B. ‘verheerend’ (von der Feuerwirkung) heute eines der beliebtesten Wörter zur Abwertung im allgemeinen, ein ‘verheerendes’ Gesicht oder Kleid! - oder ‘restlos’ (von der Beseitigung eines Hindernisses oder Widerstandes); dieser mathematisch gefärbte Ausdruck verführte bei nicht anschauungsgetreuer Verwendung sehr bald zu unlogischen Missbräuchen, auf die schon während des Krieges ein so feiner Sprachkenner wie Behaghel hinwies, sein Material z. T. sogar den Heeresberichten selbst entnehmend. (Heute ist das Wort beliebt zur Bezeichnung einer völligen Erfüllung). Das zunächst von der Verwendung militärischer Kräfte gebrauchte ‘einsetzen’ - die und die Division wurde frisch ein- | |
[pagina 275]
| |
gesetzt - vollzog innerhalb der bis jetzt überschaubaren Zeit einen Bedeutungswandel, den ich ethisch nennen möchte, besonders als reflexives Zeitwort: sich für eine Sache einsetzen, gleichbedeutend mit sich für sie (restlos!) opfern. Gerade wegen des anschaulichen Elementes in ihnen bieten die kriegerischen Fachausdrücke kaum Verständnisschwierigkeiten (im Gegensatz zu früher verwendeten Fremdwörtern dieser Art wie Peloton, Sappe, usw.). Bewusst rein gehalten wurde die Feldflieger- und dann natürlich auch die Fliegerfachsprache, mit umso grösserem Recht, als hier die Führung im Technischen vielfach bei den Deutschen gelegen hatte. Ein mir vorliegender kleiner Aufsatz zeichnet sich noch besonders dadurch aus, dass er über das Gesinnungsmässige der Deutschheit hinaus für eine sprachlichtechnische Genauigkeit wirbt, u.a. den Ausdruck Tragfläche ablehnt, weil es sich doch um einem Körper handle! Ein anderer, aus dem Felde stammender, verzeichnet einige jetzt sehr in Gebrauch gekommene Ausdrücke der Flieger, z. B. ‘Kanone’ (grosse Kanone) für besonders erfolgreichen Flugzeugführer, ‘abhauen’ für starten, ‘die Sache schmeissen’ für eine Sache richtig anfassen, ‘durchdrehen’ (um den Motor zu entgasen), was heute eine psychologische Bedeutung bekommt (ich bin ganz durchgedreht, d.h. seelisch durcheinander) und vielleicht auch aus einer anderen technischen Sphäre kommen kann. Auch der Modeausdruck ‘im Bilde sein’ für orientiert sein (Gegensatz ‘armer Irrer’) wird an der gleichen Stelle bereits vermerkt. Die allgemeine Neigung, die technischen Dinge zu beseelen, wirkt sich auch hier aus; ich verweise auf: ‘der Motor springt an, zieht, wird abgewürgt’, eine Leitung wird ‘abgedrosselt’ (ursprünglich jägersprachlich, wo ‘Drossel’ die Luftröhre des Wildes bezeichnet). Tierhaft gesehen werden auch die Flugzeuge selbst: ‘Taube’ (für einen bestimmten Typ), ‘Silberkondor’, vermenschlicht Kanonen: ‘Dicke Bertha’ (da aus der Fabrik von Bertha Krupp stammend). Dass eine so naturnotwendig ‘zwischenvolkliche’ Angelegenheit wie die Fliegerei an sich auch der internationalen sprachlichen Bezeichnungen bedarf, ist ein Gesichtspunkt, der neben dem erwähnten des nationalen Geltungsbedürfnisses auch erwähnt zu worden verdient - und in praxi Beachtung findet. Die vor dem Kriege nur schüchtern bei uns nachgeahmte Neubildung von Wörtern aus Anfangsbuchstaben (‘Hapag’ = | |
[pagina 276]
| |
Hamburg-Amerikanische-Paketfahrt-Aktiengesellschaft) wird von der Militärverwaltung und dann von der Wirtschaft übernommen und üppig entwickelt (gegen den Willen der Sprachüberwacher, die die Künstlichkeit dieser Bildungen bemängeln). Von der M.G.-Kompanie (= Maschinegewehrkomp.) führt eine gerade Linie über die Flak (= Flugzeugabwehrkanone) zum A.O.K. (= Armeeoberkommando), und die unseligen Kriegswirtschaftsgesellschaften beglücken das notleidende Volk wenigstens mit originellen Wörtern (oder doch auch Wörter-Ersatz?). Für dieses Verfahren spricht m. E. - was meistens vergessen wird - dass die zutreffendsten Bezeichnungen sich durch Schwerfälligkeit der Aneinanderfügung auszeichnen müssen, daher nach einer Abkürzung geradezu schreien, und unverbundene Buchstaben (wie Zahlen) sagen sich nun einmal angenehmer und ohne die psychischen Hemmungen, die der dauernden Wiederholung von Wörtern, noch dazu langatmigen, anhaften. Die Neigung ist übrigens heute ebenso international wie unsere Organisationsformen, hat auch wohl dieselbe Ursache (s.u.). Von der Kriegsgesellschaften her dürfte sich der heute recht beliebte Ausdruck ‘organisieren’ = sich beschaffen schreiben, dem ein wenig der Gefühlston der unrechtmässigen Beschaffung anhaftet. Neben diese technischen Ausdrücke des Kriegshandwerke treten nun aber auch gewissermassen ‘hintenherum’ - wie ein beliebter Notausdruck aus der Lebensmittelversorgung lautet die mehr oder minder stubenunreinen Kraftwörter der eigentliehen Soldatensprache, die zu einer, wie es jetzt scheint, dauernden Verschiebung der Höhenlage des sprachlichen Ausdrucks führen. Ein geistreicher Franzose hat einmal für seine Muttersprache festgestellt, dass das während der Jahre des Grauens am häufigsten gebrauchte Wort ‘merde’ gewesen sei, und ähnliches wird sich wohl auch für das Deutsche behaupten lassen. Wie weitgehend die sogenannte Gesellschaft harthörig für die Anstössigkeit saftigster Worte geworden ist, das überrascht mich als Angehörigen der älteren Generation immer wieder. Auch Frauenmund will nicht zimperlich sein im heroischen Zeitalter und passt sich an, verwendet mindestens leichtere, aber sehr durchsichtige ‘Hüllworte’ (‘Scheibe’, ‘Armeleuchter’) ohne zu stolpern oder zu erröten. Einen Masstab für das heute Zulässige bietet die Bühnensprache, insbesondere der zahlreichen Frontkämpferstücke. Diese von früherm Standort aus | |
[pagina 277]
| |
gesehene Niveauverschiebung hat nach meiner Kenntnis keine Parallele in der deutschen Sprache - wenn man nicht die grobianistische Sprachmode heranziehen will - und beweist soziologisch stärker als alle Statistiken, in wie hohem Masse das ganze Volk, einschliesslich der Heimat, ‘Soldat’ geworden ist. Im Sinne der Hirtschen etymologischen Forschungen wäre auf die Aufhebung des Unterschieds zwischen einer Männer- und Frauensprache hinzuweisen, - gebildete Frauen kennen ihren Männern geläufige Ausdrücke.... nicht = (heute nur zu gut). Es ist interessant, dass ein Einwand gegen Luthers Deutsch von katholischer Seite genau auf diese Erscheinung hinzielte! Und sozialgeschichtlich ist hier der Beweis erbracht, dass alle Standesschranken vor der allgemeinen Wehrpflicht zusammenbrachen; die ‘Standessprache’ des Kriegsteilnehmers eroberte sich auf die Dauer Gebiet in der allgemeinen Sprech-, und sogar Schriftsprache, während sie früher immer nur in unmittelbarer Nähe des Rotwelsch ein unbeachtetes und kümmerliches Dasein geführt hatte. Selbst alle Bezeichnungen aus dieser etwas anrüchigen Welt werden durch die Adlung des Soldatentums druckfähig, z. B. ‘Schlamassel’ - besonders leicht eingehend, wegen der Assoziation mit dem ‘Schlamm’ der Trichterfelder - ‘Kohldampf’ meist in Verbindung mit dem Verbum ‘schieben’ für Hunger welches ebenfalls durch den Kohlrübenwinter gut eingeführt wurde, und ‘funken’ für schiessen, das freilich bei der Ausbreitung der Funkentelegraphie ebenso gut neu geschaffen werden konnte. ‘Tippeln’ ‘tigern’ und ‘türmen’ für marschieren, kriechen und ausreissen (fliehen) sind langst bezeugte Rotwelsch-Zeitwörter. Die erste Rechenschaftsablegung wegen der Wandlungen, die der Krieg über die deutsche Sprache gebracht hatte, finde ich in einer Monographie ‘Die deutsche Sprache’ von Fischer aus dem Jahre 1919 (Teubner): ‘Im 5. Kriegsjahr gebrauchen wir jeden Tag.... wenigstens 20-30 Worte, von denen wir im Juli 1914 kein einziges kannten oder verstanden hätten’. Aus der Zahl der Beispiele, die der Verfasser gibt, hebe ich die heraus, die über das militärische Gebiet hinausgehen: ‘Schwerarbeiter’ (ursprünglich mit Anspruch auf mehr Lebensmittelmarken), ‘Druckposten’ (Posten ohne unmittelbare Lebensgefahr, für ‘Drückeberger’), ‘Ersatz’ mit deutlich gefühltemtem Unwerturteil, ‘Opfertag’ (mit Strassensammelei für einen guten | |
[pagina 278]
| |
Zweck), ‘Schlange stehen’ (ja sogar transitiv ‘Butter oder Milch stehen’) d.h. sich in Reihen anstellen, um irgendeines der knappen Lebensmittel zu ‘erstehen’. ‘Besorgen’ ungefähr in gleichem Sinne wie oben ‘organisieren’ erinnert an ein altes ähnlich entfärbtes Wort des Mittelalters: ‘kriegen’ d.h. sich durch kriegerische Mittel etwas beschaffen, dann bekommen schlechthin. Der Zusammenbruch des deutschen Kaiserreiches und der dadurch nötig wordende Wiederaufbau eines neuen Staatsgebäudes stellte auch die deutsche Sprache vor neue Aufgaben. Zunächst ist davon auszugehen dass der oben erwähnte Schichtenwechsel sich innerhalb gewisser Grenzen auch hier auswirkte. Was ein Kriegsbeurteiler schrieb: ‘Mancherlei Amtsstil müssen mancherlei Leute handhaben, die erst der Krieg auf ihren Posten gestellt hat.... Sind diese Kriegsbeamten nun geistig hochstehende Leute, so können sie die Entwicklung der Amtssprache zum Guten und Schönen fördern’, gilt auch für die sprachliche Entwicklung der Weimarer Republik als Motto. Da im ganzen der Stamm der alten Beamten in Funktion blieb, grundsätzlich die ‘neuen’ auch den ‘alten’ gleich zu werden suchten (aus innerer Unsicherheit z. T.), so bleiben im Gegensatz zu Russland (und zum Deutsch des dritten Reichs) die Einwirkungen recht gering. Soziologisch ist vielleicht nichts so beweisend für die unrevolutionäre Kompromisslösung von 1919 wie die sprachliche Konstanz, beweist sie doch, dass in der Tat nur die verlassenen Plätze einer im Augenblick verzweifelten Schicht von gutmütigen Platzhaltern, die starke Verantwortung für das von ihnen erst zu erobernde Vaterland, eingenommen worden waren. Immerhin ergaben sich aus den sachlich neuen Aufgaben einige Möglichkeiten und Zwangslagen, das sprachliche Gewand der deutschen Sprache um einige Webestreifen zu verlängern. Ich will dai zunächst die aus der parlamentarischen Lebensform sich ergebenden Folgen betrachten. Gewiss hatte es sie im keimartigen Ansatz auch vor dem Kriege und während desselben gegeben, aber eine volkstümliche Ausdrucksform, die nun auch durch die Wahlmaschinerie und das Parteienleben einschliesslich der Presse ins Alltagsleben hineinreichte, wurde sie erst durch die Weimarer Verfassung. (Diese selbst steuert übrigens eine ganze Menge von neuem Sprachmaterial bei und bereichert die deutsche politische Literatur nicht unerheblich, wurde auch aus den eben erwähnten Gründen und durch die Versuche, sie ins Volk zu | |
[pagina 279]
| |
tragen, besonders der Jugend zugänglich zu machen, für die kurze Zeit ihrer Geltung recht eingebürgert). Waren die alten Reichstagsausdrücke und Presseredensarten überwiegend aus den älteren parlamentarischen Ländern in Wort- oder Lehnübersetzung geborgt, so werden nun eigenwüchsige Bezeichnungen geschaffen. Da die Mehrzahl der deutschen ‘Volksgenossen’ keine besondere Redegabe mitbringt, auch weder durch die Schule noch sonst rednerisch geschult war, ergibt sich aus den Reichstagsreden - und viel mehr aus den gehörten provinziellen Reden und Debatten oder Diskussionen ein ziemlich armes Bild unserer Muttersprache und ein recht blasser, abstrakter und papierener Stil. Typische Gedankensurrogate breiten sich aus: ‘meines Erachtens’ (vielfach fehlerhaft m. E. nach), ‘ich stehe auf dem Standpunkt’, ‘in bezug auf’, Modeworte greifen um sich: ‘Einstellung’ und ‘sich einstellen’, die ‘Fühlungnahme’ wird geradezu Symptom des Verhandelns, ebenso die ‘Auseinandersetzung’, und sehr bald kommt man an die Grenzen des ‘Tragbaren’! Angst herrscht vor ‘Werturteilen’ oder ‘Wertungen’, jeder bemüht sich um strengste ‘Sachlichkeit’, (Objektivität), bis in die neue Baukunst hinein (‘die neue Sachlichkeit’, vor allem im Städtebau), die gleichzeitig nach ‘Bodenständigkeit’ strebt. Die Volkshochschule nimmt allerorten die Sprachpflege in ihren Lehrplan auf und hilft dadurch mit, das Gefühl für eine bildkräftige Ausdrucksform zu stärken, das früher bei uns Deutschen wohl nie recht entwickelt worden war. Die oben erwähnte Deutschbewusstheit wurde auch von der Weimarer Zwischenperiode durchaus betont. Die zweite grosse Aufgabe, vor die sich die ‘Platzhalter’ gestellt sahen, der Wiederaufbau der zerstörten Wirtschaft, fördert durch die Neuheit der Methoden und Techniken auch den sprachlichen Ausdruck. Die ‘Rationalisierung’ der Produktionsvorgänge verwirft z.T. die fremden Ausdrücke und ersetzt sie durch eigene, oft gut gesehene wie ‘das laufende Band’ (= conveyor system). Die Motorisierung des Landes bringt nicht nur dem Fachmann, sondern auch dem Laien eine Menge höchst anschaulicher Ausdrücke, wie sich sichtlich der gesamte Stil der Tagesrede ‘versachlicht’ und nach neuen Idealen gestaltet. Selbst die seelischen Vorgänge werden im Zeitalter des realistisch-technisch-naturwissenschaftlichen Denkens nicht mehr ‘humanistisch’ verdeutlicht, sondern eben technisch. Gefühle | |
[pagina 280]
| |
werden nicht mehr erlebt oder erlitten, sondern ‘ausgelöst’ (wie das physikalische oder chemische Experiment), Menschen, die ihrer Aufgabe nicht gewachsen sind, werden zu ‘Versagern’ gestempelt. Ein Geschenk des Krieges, das erst im Frieden der Gesamtbevölkerung zugänglich gemacht werden konnte, der ‘Rundfunk’, schafft eine neue Nomenklatur, die schnellstens volkstümlich und, aus ihrer Lebendigkeit heraus, auch auf alle anderen Gebiete des täglichen Lebens übertragen wird. Dass auch hier mit der Erfindung der Ausdruck für Deutschland in Anspruch genommen wird, versteht sich fast von selbst, die Zentralisierung derselben bei der Reichspost ermöglicht auch eine behördliche Überwachung, Manche Verdeutschungen, wie ‘Erdleiter’ statt Antenne, ‘Zelle’ für Detektor haben sich aber doch nicht durchgesetzt. An sich ist die Bedeutung der früher unglaubhaften Vereinheitlichung der Sprachsendungen durch wenige Sprecher gar nicht hoch genug anzuschlagen. Wir haben heute die von manchen Gegnern der zu weit getriebenen Sprachkontrolle einstmals befürchtete und lächerlich gemacht ‘Sprachpolizei’! Und um so mehr ist deren Wirkung zu bedenken, weil die Aufdrängung einer sprachlichen Form durch das Ohr gerade für ein musikalisches Volk wie das deutsche folgenreicher sein dürfte als die stumme des gedruckten Buchstabens, zumal noch die ewige Wiederholungsmöglichkeit hinzukommt. Immerhin ist auch für Überfütterung des Auges gesorgt durch die ungeheure Ausdehnung des Kinos, zunächst in der stummen und nun auch in der (sprachlich den Radio gleichzusetzenden) sprechenden Form des Tonfilms. Der Wortschatz der flimmernden Welt-vom ‘Film’ angefangen über die ‘Leinwand’ hin bis zur ‘Überblendung’ oder ‘Photomontage’ beherrscht ein grosser Teil der Bevölkerung. Die Verleihung der deutschen Pluralendung an das Führerwort - früher die Films, heute nur noch die Filme - ist kennzeichnend für seine Hereinnahme in das deutsche Sprachgefühl. Die bessere Stilisierung der Zwischentitel sei als ein Fortschritt gegenüber den geradezu ‘verheerenden’ Anfängen gern anerkannt. Endlich wächst sich zu einer ganz neuen Erholungs- und Ablenkungsquelle aus das Riesengebiet des Sportes. Dass in seinem Kielwasser eine Menge Fachausdrücke segeln, ist klar, aber darüber hinaus bemüht er sich um einen neuen Stil der Schilderung sportlicher Vorgänge, vor allem auch bei deren Übertragung durch den Rundfunk, | |
[pagina 281]
| |
der beliebten Reportage. Ein bedeutender Theaterkritiker bescheinigt entgegen anderen abfälligen Urteilen dieser Ausdrucksform ihre Lebensnähe und ihr ‘gegenständliches Sehen’, worum andere Sondersprachen sie beneiden könnten. Zurück zur Wirtschaft im engeren Sinne! Die Notwendigkeit der ‘Planwirtschaft’ einerseits, der Versuch, durch die deutsche Wirtschaft, die gesund blieb, den neuen Staat zu retten, anderseits steckt die Grenzen der sprachlichen Entwicklung ab. Mit der bereits im Kriege eingeführten Rationierung Hand in Hand geht der ‘Schleichhandel’ und die ‘Schleichhandelsware’, geht die ‘Hamsterei’, das ‘Schwarz-Schlachten’ d.h. das unerlaubte Erwerben oder eigenmächtige Verwenden bestimmter Nahrungsmittel, die nicht ‘markenfrei’ d.h. ohne amtlichen ‘Bezugsschein’ zu erhalten waren. Trotz aller Gegenmassnahmen verdienten die Besitzer ‘lebensnotwendiger’ Güter Unsummen, wurden ‘Kriegsoder Revolutionsgewinner bez.-gewinnler’, der von Zeit zu Zeit vorgenommene ‘Preisabbau’ liess oft nur die Ware vom Markt verschwinden und zu Phantasiepreisen im illegalen Handel auftauchen, wobei die ‘Schieber’ d.h. Weiterverkaufer irrsinnige Gewinne machten. Im ‘Wirtschaftskrieg’ die fast aussichtslose deutsche Situation zu bessern durch ‘Markteroberungen’ sogar mit dem Mittel des ‘Dumpings’Ga naar voetnoot1) dem durch die ‘Inflation’ eine Stosskraft gegeben wurde, die wirklich zu einer ‘Scheinblüte der Wirtschaft’ führte, die die Welt beunruhigte und empörte, schien auf der anderen Seite die beste Politik, und durch die Inflation gerade wurde fast jeder in einen Schnellkursus börsentechnisch und handelspolitisch geschult, wodurch Ausdrücke dieser Sondergebiete zum sprachlichen Tagesgut geschlagen wurden, die früher kaum der Fachmann kannte, geschweige denn benutzte (‘Valuta’, ‘Devise’, ‘Inflation’, ‘Clearing-House’ oder einfach ‘Clearing’). Bir zur ‘Stabilisierung’ sc. der Mark gewann die ‘Index’-rechnung grosse Bedeutung, man interessierte sich ‘der Not gehorchend’ lebhaft für die ‘Richtziffern’, mit denen man je nach dem Markwert zu multiplizieren hatte. Ich habe niedrige Volksschulklassen Exempel der Hauswirtschaft in Milliarden der Billionen ausrechnen sehen, bei denen früher Bankbeamten der Angstschweiss ausgebrochen wäre. | |
[pagina 282]
| |
Die ‘Wiedergutmachung’ (= Reparation), im deren Dienste diese Anomalien geschahen, aber lächelte olympisch über all das irre Getue einer aus den Fugen geratenen Wirtschaft, für das die Quittung in der Weltkrise vorgelegt wurde. Auf dem ‘inneren Markt’ entfaltete die vor dem Kriege noch in den Kinderschuhen steckende Reklame, zu deutsch ‘Kundenwerbung’, eine ungeahnte Betriebsamkeit, um die am laufenden Band Serien- und massenweise hergestellten Sachen loszuwerden. Wie sie sich sprachlich gebärdete, das verdiente eine eigene Untersuchung. Ausser den Akrosticha, die auch hier rasend in Aufnahme kommen z. B. Pebeko (Paul Beyer (und) Comp.) begegnen besonders häufig Suffixbildungen, bei denen die Chemie Pate gestanden hat und die Schulkenntnisse im Lateinischen und Griechischen Erzeuger waren - welch Triumph der klassischen Bildung! -, z. B. ‘Urbin’ (Schuhputzmittel, Konkurrenz ‘Erdal’), ‘Glättolin’ (von einer deutschen Wurzel mit ‘doppelt-chemischen’ Anhängsel!). Hat sich ein Produkt eingebürgert, so hatte das Gegenerzeugnis der Konkurrenz sprachlich schon nicht mehr freie Wahl, sondern muss vielfach Rücksicht nehmen in der Benennung. Einprägung um jeden Preis und Kürze - beides mit einander verwandt - sind die Richtpunkte für diese sprachliche Entwicklung, während bei der Personen-namengebung und Strassenbenamung (um das wenigstens kurz anzudeuten!) genau die gegenteilige Neigung zu beobachten ist: lange Doppelnamen für Knaben und Mädchen, - möglichst germanische oder für germanisch gehaltene, - und bei den Strassen und Plätzen auch Vorname des zu ehrenden Mannes, ja gelegentlich seine Amtsbezeichnung! Die Geschichte der Strassennamen und ihrer Umbenennungen in Deutschland wird einmal ein interessanter Abriss der Zeitgeschichte werden, gibt es doch Strassen, die dreimal andere Schilder erhielten, weil der Propagandawert des Namengebers inzwischen gewechselt hatte. Der politische ‘Umbruch’ vom Januar 1933, auch die ‘Machtergreifung’ genannt, brachte zunächst sprachlich die Tendenzen wieder zum Durchbruch, die auch während des Krieges die herrschenden gewesen waren, logischerweise, denn seine Träger waren mindestens zum erheblichen Teil die gleichen, ehemals herrschend gewesenen Kreise, die ja die Zwischenzeit des staatlichen Lebens als nicht existent ansahen und dem deutschen Volke entsprechend hinstellten. Hinzukommt, dass für sie die Zeit des | |
[pagina 283]
| |
‘Soldat-seins’ während der ‘vierzehn Jahre der Schmach’ innerlich nicht aufgehört, ja auch für viele das äussere Leben des Kriegers tatsächlich oder ideell fortgedauert hatte. Die von der Weimarer Republik ungebührlich an die Wand gedrückte u. psychologisch falsch behandelte Frontkämpfergeneration erstritt sich ihr Recht! Wie der deutsche militärische Ausdruck - knapp, ohne Hilfs-, ja überhaupt ohne Verbum - in Meldungen und Berichten der Hitlerjugend oder der S.A. und S.S., Adolf Hitlers braunen Bataillonen, die zeitweilig doch einen erheblichen Teil der gesamten männlichen Bevölkerung erfassten, anerzogen wurden, so atmen die Erlasse oder Befehle, die die Regierung herausgibt seitdem kriegerisches Denken und Pathos. Die nach der Verkündigung der Wehrhoheit mit Macht betriebene Luftverteidigung brachte die ‘Luftschutz’ -, die schleunigst aus-bez. aufgebaute ‘Nationalsozialistische Volkswohlfahrt’ (NSV) die ‘Wohlfahrts’- und Sammel-Fachsprache (z. B. den berühmten ‘Eintopf-Sonntag’ und seine Gerichte), die werktätige Bevölkerung wurde durch die ‘Arbeitsfront’ mit ihrer Nebenorganisation ‘Kraft durch Freude’ (KDF) in ‘Fachschaften’ mit mannigfacher sprachlicher Kost versorgt und kulturell ‘betreut’. Die politische Organisation (PO), vor allem aber die politischen Soldaten Adolf Hitlers, S.A. und S.S., wurden in Anlehnung an die alte, 1918 zusammengebrochene Heeresorganisation des Kaiserreichs gebietweise in Gauen zusammengefast, für die Gruppen der letzteren wurden ganz neue, z. T. merkwürdigerweise undeutsche Ausdrücke von höchster Plastik geschaffen, wie Sturm, Standarte, ‘Trupp zu’ denen die entsprechenden militärähnlichen Chargen gehören. Der Arbeitsdienst erhebt seine Stimme. Wie weitgehend das ganze Leben der Nation als een Kriegszustand angesehen wird, zeigt am deutlichsten die Vorliebe für das Wort Schlacht, das zu scheinbar ganz friedlichen Vorgängen des wirtschaftlichen Lebens in Beziehung gesetzt wird. Nicht bloss das gewaltige Unternehmen, durch Hineinpumpen von öffentlichen Mitteln die Wirtschaft wieder anzukurbeln und in Gang zu halten, wird als die ‘Arbeitsschlacht’ bezeichnet, sondern ach einfache Beschaffungsvorgänge laufen unter diesem Namen, z. B. fand in Berlin eine ‘Stiefelschlacht’ statt. Die aufs höchste ausgebildete Organisation gestattete nicht nur gleich nach der Machtübernahme die ‘Gleichschaltung’ aller Vereine und Verbände, sondern erfasst auch ‘schlagartig’, wie | |
[pagina 284]
| |
ein gut vorbereiteter Feuerüberfall, ein kleineres oder das ganze Reichsgebiet bei einer Sonderaktion, ordnet auch bei wichtigen Veranstaltungen sogenannten ‘Gemeinschaftsempfang’, d.h. gemeinsames Anhören irgendwelcher reichswichtiger Radio-sendungen an. Die zunächst wohl nur militärisch verstandene Verwendung des der Heldensage von Siegfried entstammenden Wortes ‘tarnen’ bez. ‘Tarnung’, wird auch politisch üblich. Recht lehrreich ist zu sehen, wie der anderen Weltanschauung, die der Nationalsozialismus darstellt, auch andere Steigerungswörter entsprechen, nicht mehr die alten, auf errechenbare Grössen nüchtern Bezug nehmenden wie ‘gewaltig’, ‘kolossal’, sondern ‘irgendwie’ ins Mythische hineintastende z. B. ‘fabelhaft’ und besonders ‘phantastisch’. Der ältere Versuch, das Allerweltswort ‘Interesse’ zu beseitigen, dringt bis ans Ziel erst vor in einer Periode, die auch die Interessentenhaufen, die hinter einem Parlament stehen, auszumerzen wagt; sein Ersatzvorschlag ist das, meines Wissens alt-österreichische, ‘Belange’. Gegenläufig ist eine nicht zu leugnende Neigung mancher der obersten Führer wuchtige Fremdwörter, die nicht volkstümlich waren, einzubürgern: ‘Garanten’, ‘Prominenten’ ‘Emigranten’. Das von den Sprachfreunden immer schon beanstandete ‘Verreichlichung’ d.h. Übernahme auf das Reich, hat Aussichten, sich durchzusetzen, obwohl es sicherlich heute noch ‘reichlich’ an das Eigenschaftswort ‘reich(lich)’ anklingt; von der an sich möglichen Analogie ‘Verstadtlichung’ ist es still geworden, da auch die Sache nicht mehr in die allgemeine Richtung der Politik der Dezentralisation der grossen Menschenansammlungen hineinpasst. Wie Brauchtum, Blut und Boden die bestimmenden Faktoren der Menschenerziehung, nicht nur der schulplichtigen Jugend geworden sind, so finden Propagandaschriften, aber auch Ausstellungen jeder Art in allen Gegenden des Reiches statt und hämmern das neue Wollen jedem ‘Volksgenossen’ ins Gehirn. Die Bemühungen, gleichzeitig das traditionstreueste und modernste, das industriebeflissentste und ‘bodenverhaftetste’, das soldatischste und friedliebendste Volk zu sein und jeden Staatsbürger in jedem Augenblick mit der vollen Verantwortung für alles was geschieht, zu belasten, sind wahrhaft ‘gigantisch’, die Bemühungen, alte, überlieferte Moralgewohnheiten der weiterdrängenden Entwicklung anzugleichen, in der Tat ‘moralinfrei’ d.h. frei von jeder engbürgerlichen Voreingenommenheit. | |
[pagina 285]
| |
Das Gefühl, noch nicht überall verstanden zu werden, gibt den verantwortlichen Männern das Bewusstsein, dauernd Kapitäne auf der Brücke oder Schlachtenlenker zu sein, sie suchen, die auf sie und das Reich erfolgenden Angriffe durch Vorausschau und Vorangriffe zu entmutigen und die eigenen Reihen zusammenzuschliessen, in einer unauflöslichen ‘Schicksalsfront’. Der Staat ist unser Schicksal! Bemerkenswert ist die geringe Beeinflussung der Sprache von der Erziehungsseite her; es ist wohl oft die Rede von der ‘Ausrichtung’ - wieder ein militärischer Ausdruck -, aber selten von der Unterrichtung oder ihren Sonderaufgaben, wie man ja die Formung der Verstandeskräfte zunächst für nicht so dringlich hielt, wie die des Charakters. Einige Einrichtungen der psychologisch überempfindliehen Zwischenzeit, wie die Eignungsprüfungen, werden aber doch beibehalten als Ausleseverfahren z. B. bei der Reichswehr; auch die Berufsschule kann nicht über eine zu geringe Wertschätzung im neuen Staat klagen. Von einer Pflege der Volkshochschule ist freilich nicht mehr die Rede, sie läuft im rein vortragsmässigen Sinne weiter und vermittelt, ähnlich wie ‘Kraft durch Freude’, billige Kurse nützlicher Art. Wie ein kleiner sprachlicher Witz mutet es an, wenn neuerdings auch Filme ‘Schulpflichtig’ erklärt werden, d.h. jedem Schüler zugänglich gemacht. Der Wortschatz einer Sprache vergröszert sich, sobald die menschliche Betätigung eine Erweiterung erfuhr, sei es im Denken sei es im Handeln. Wenn wir von dieser Warte aus noch einmal die deutsche Sprache im Umbruch, so wie sie uns bei unserem flüchtigen Überblick darbot, überschauen, so kann es keinem Zweifel unterliegen, dass sich im letzten Jahrzwanzigst die deutsche Betätigung vorwiegend im Handeln erweitert hat, weg von den Arbeitsformen, die jahrhundertelang als die dem deutschen Volke eigentümlichen und wesensverwandten galten, und insbesondere das letzte Zehntal des von uns durchschrittenen Zeitraumes muss nach Ausweis der sprachlichen Veränderungen als eines der aktivsten unserer Geschichte angesprochen werden.
Berlin. KARL RÖTHE. |
|